Ein Leben für die Musik: Andreas Stein aus Pohlheim leitet zehn Chöre im Kreis Gießen und unterrichtet Kinder an der Gesamtschule Gleiberger Land. Am Samstag wird er 60 Jahre alt. Für seinen ersten Job als Chorleiter in Wettenberg entschied er sich vor 23 Jahren zu einem radikalen Schnitt.

Andreas Stein schüttelt den Kopf. Nein, sagt er, einen Bürojob könne er sich nicht vorstellen. „Meine Aufgabe ist so schön, so vielseitig, ich komme ständig mit Menschen zusammen.“ Er genieße es zudem, auf der Bühne zu stehen. „Und ich liebe den Applaus nach einem gelungenen Abend.“ Stein leitet zehn Chöre im Auftrag von fünf Vereinen in der Region – in Gleiberg, Odenhausen, Heuchelheim, Altenvers und Watzenborn-Steinberg, wo er die „Modern Voices“ dirigiert. An der Gesamtschule Gleiberger Land gibt er außerdem Fünftklässlern jede Woche eine Chorstunde. „Singen ist täglich“, sagt Stein lachend, der am kommenden Samstag seinen 60. Geburtstag feiert.

23 Jahre ist es her, als Stein zum ersten Mal einen Chor im Kreisgebiet dirigierte. Eine Zeitungsanzeige führte ihn zu der Aufgabe, die Sängervereinigung Gleiberg suchte einen Chorleiter. Damals hatte Stein noch wallendes, schulterlanges Haar. Zwei Stunden vor dem Bewerbungsgespräch entschloss er sich spontan, seine Haare zu schneiden, um beim Vorstand des Traditionsvereins einen möglichst guten Eindruck zu hinterlassen. „Das hatte ich zu der Zeit aber schon lange vor“, erzählt er. Stein erschien mit kurzer Matte zur Probestunde – der Verein entschied sich anschließend einstimmig für ihn. Auf die Frage, welcher seiner zehn Chöre das höchste Niveau hat, druckst Stein verständlicherweise herum. Alle Ensembles bereiten ihm Freude und haben Qualität, erklärt er. Die Modern Voices seien leistungsstark, räumt er dann ein. „Die lassen sich auch ein bisschen quälen.“ Im nächsten Moment korrigiert er sich: „Schreiben Sie lieber: Die lassen sich fordern.“

Stein ist ein anspruchsvoller Chorleiter. Bisweilen ist er auch streng mit den Sängern, aber immer mit einem Lächeln auf den Lippen. Einer, der seine Gruppen zu einem höheren Niveau tranieren will. „Bei Swing oder Jazz zum Beispiel muss man ans Eingemachte“, sagt er. „Da arbeitet man mit Dissonanzen und auch mal mit erweiterten Akkorden.“ Erzählt Stein von seiner Tätigkeit mit den verschiedenen Chören, blitzen seine Augen. Wie ein 60-Jähriger wirkt er nicht. „Musik ist mein Leben“, sagt er. Klar, räumt er ein. Sein Job sei auch, die Sänger zu motivieren und immer wieder an denselben Makeln der Stimme zu arbeiten. „Man steckt 100 Prozent rein. Manchmal kommt auch nur zehn Prozent raus, das kostet viel Energie.“ Gleichzeitig sei die Aufgabe unheimlich befriedigend. „Wenn auf der Bühne 80 Kinder und 100 Erwachsene gemeinsam ›Eye of the tiger‹ singen – das geht ab.“

Stein lebt von der Musik. Nebenher war der gelernte Drucker allerdings immer wieder auch in ungewöhnlichen Jobs tätig. Bereits zur Finanzierung des Studiums fuhr er beispielsweise Lkw, lieferte bundesweit kleine Autos aus. „Das war Ende 1989, kurz nach der Wende“, erzählt er. „Ich bin damals auch in die hintersten Winkel der neuen Bundesländer gekommen.“ Diese neue Freiheit und die Landschaften im Osten Deutschlands hätten ihn damals tief berührt. Der Liebe wegen zog Stein Mitte der 90er Jahre in den Kreis Gießen, zunächst nach Alten-Buseck, später nach Watzenborn-Steinberg. Aufgewachsen ist er in den 60er und 70er Jahren im schwäbischen Heilbronn. „Meine Mutter hat den ganzen Tag gesungen“, erzählt er. „Alles, was im Radio lief, vor allem Schlager der 50er und 60er Jahre.“ Mit 15 spielte er in einer Band, später nahm er Gesangsstunden bei einer Opernsängerin. Früh habe er gemerkt, dass er Lieder nicht nur oberflächlich wahrnimmt. „Musik hat mich schon immer emotional sehr mitgenommen. Musik ist wie Verliebtsein.“ Mit Ende 20 zog es Stein in die Stadt, nach Freiburg. Er spielte in Musicals und schlug sich durchs Leben, nahm zudem Tanz- und Schauspielunterricht. „Ich habe den Drang verspürt, kreativ zu sein und mich auszudrücken.“ Irgendwann allerdings stand er Ende der 80er Jahre vor der Frage, ob er die Musik als Beruf wählt. Und sollte es die klassische Musik sein? „Ernst oder nicht?“, habe er sich gefragt. 1989 begann er dann ein Studium an der Berufsfachschule für Musik in Bad Königshofen in Bayern. Sein Hauptfach war wegweisend für seine heutige Tätigkeit: Gesang und Dirigat sowie Ensembleleitung. „Ich habe nur fünf Kilometer Luftlinie entfernt von der deutsch-deutschen Grenze gelebt.“ Die Wendezeit im Herbst 1989 habe er aus nächster Nähe miterlebt. „Später bin ich dann zu dem kleinen Grenzübergang und bin langsam drüber gefahren – es war faszinierend.“ 1991 studierte er schließlich Musik in Wiesbaden mit dem Hauptfach Gesang. Er habe damals mit dem Gedanken gespielt, in einem Opernchor zu singen, dies aber schnell wieder verworfen. Auf die Frage nach dem Grund antwortet er: „Das war mir zu dunkel.“ Die ständigen Proben ohne Tageslicht hätten ihn abgeschreckt. „Und ob es stimmlich gereicht hätte, weiß ich auch nicht.“ Die Liebe führte ihn schließlich nach Mittelhessen – und eine Zeitungsanzeige zur ersten Chorleitung.

Mit 60 Jahren denkt er noch nicht ans Aufhören, Gedanken über die Zeit als Rentner macht er sich dennoch. „Auch nach 50 Jahren Arbeiten käme nicht sonderlich viel raus“, sagt er. Er könne sich vorstellen, noch mit 70 ein Ensemble zu leiten. „Vielleicht aber nur noch einen Chor.“

So ganz glauben möchte man ihm dies heute noch nicht – vor allem, wenn man ihm zusieht, wenn er selbst auftritt. Mit der Walking Band „Drei zu null“ spielen Stein und zwei weitere Musiker auf Hochzeiten, Firmenfeiern, Galas und weiteren Veranstaltungen, mit Gitarre, Schlagzeug und Kontrabass. Swing der 30er, Schlager der 50er, auch „Sweet Dreams“ von den Eurythmics und Aviciis „Hey Brother“ singt das Trio dann. Und plötzlich steht Stein auf einem Tisch und schmettert inbrünstig „I will wieder hoam“. Wenn man dann Stein beobachtet, wird klar: 60 ist – zumindest für ihn – kein Alter. –

Auf die Frage, ob der traditionelle Chorgesang ausstirbt, antwortet Andreas Stein: „Das Geschäft ist nicht einfach.“ Im Bereich von Kinder- und Jugendchören sei von den Vereinen Kondition gefragt. Bisweilen kämen Chormitglieder erst nach 25 Jahren wieder zum Singen und erst dann griffen die Mühen der Jugendarbeit. Es gehe nicht nur um die Vereine. „Sondern darum, das Metier des Singens am Leben zu erhalten.“